Projekt Beschreibung

AUSGEWIESEN! Berlin, 28.10.1938

Die Geschichte der „Polenaktion“

08.07.2018 – 28.02.2019

Zur Ausstellung

Am 28. und 29. Oktober 1938 verhafteten die Nationalsozialisten im Rahmen der „Polenaktion“ rund 17.000 jüdische Menschen und schoben sie in das Nachbarland Polen ab, weil sie polnische Staatsangehörige waren. In Berlin wurden mehr als 1.500 jüdische Bewohnerinnen und Bewohner in ihren Wohnungen oder auf der Straße verhaftet und an die deutsch-polnische Grenze transportiert. Die meisten von ihnen mussten zu Fuß die Grenze überqueren und erreichten die polnische Kleinstadt Zbąszyń (Bentschen).

Insgesamt kamen am 28. und 29. Oktober über 8.000 ausgewiesene Jüdinnen und Juden in diesem Ort an. Rund zehn Monate mussten sie in improvisierten Notunterkünften in Zbąszyń ausharren. Einigen wenigen wurde die Rückreise ins Reichsgebiet gestattet, anderen gelang die rettende Emigration ins Ausland oder sie durften zu Verwandten ins Landesinnere Polens weiterreisen. Nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht gerieten sie hier in die Fänge der Besatzer. Viele von ihnen wurden in den Ghettos und Lagern ermordet. Die Ausstellung erzählt die Geschichte von sechs jüdischen Berliner Familien vor, während und nach dem 28. Oktober 1938. Für die meisten Familien war dies der Tag, an dem sie für immer auseinandergerissen wurden. Seit Jahrzehnten hatten sie in Berlin gelebt oder waren hier geboren worden. Berlin war ihr Zuhause, ihre Spuren lassen sich im Stadtraum verorten. Die Geschichte der „Polenaktion“ ist deshalb auch ein Teil der Geschichte der Stadt Berlin. Viele der betroffenen Familien lebten in unmittelbarer Nachbarschaft des heutigen Centrum Judaicum.

Erstmals wird die Geschichte dieser einmaligen Ausweisungsaktion in einer Ausstellung in Deutschland erzählt. Im Zentrum stehen Familien, die aus Berlin ausgewiesen wurden. Neben Dokumenten der Verfolgung und Ermordung werden auch private Familienfotos, die das Leben vor der Ausweisung veranschaulichen oder vom Weiterleben nach 1945 erzählen gezeigt.

Die Geschichte der „Polenaktion“

In den Erinnerungen der Menschen und Familien, die aus Berlin ausgewiesen wurden wird der Tag der „Polenaktion“ konkreter. So schrieb Moritz Rapaport am 25. November in einem Brief an seine Kinder detailliert über jenen Moment, als er in Berlin verhaftet und nach Polen gebracht wurde: „Am 28. 10. um 5 Uhr früh kamen zu uns 2 Schupos und erklärten mich als verhaftet. Ich musste mich in aller Eile umziehen. Da ich glaubte, ins Gefängnis zu kommen, wenn ich mir auch keiner Schuld bewusst war. Ich habe meinen alten Anzug, alten Mantel und Schuhe angezogen, meine Uhr und Kette zurückgelassen und ohne etwas Wäsche mitzunehmen, sofort mitgehen musste. 10,– [M.] durfte ich mitnehmen.“1

Oftmals wird die „Polenaktion“ nur als Vorgeschichte der Novemberpogrome gesehen. Denn aus Hannover wurde auch die Familie Grynszpan nach Polen ausgewiesen. Der jüngste Sohn Herschel lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in Paris. Am 7. November 1938 verübte er in der deutschen Botschaft in Paris ein Attentat auf den Botschaftsangehörigen Ernst vom Rath. Ein mögliches Motiv soll die Ausweisung seiner Familie gewesen sein. Die tödlichen Schüsse nutzten die National sozialisten als Vorwand, um zwischen dem 8. und 11. November antijüdische Pogrome auszulösen, die sie schon länger geplant hatten.

Alina Bothe, Gertrud Pickhahn

Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit in Berlin

Berlin war bereits seit den 1880er­Jahren ein zentraler Ort der osteuropäisch­jüdischen Migration, eine Transitstation auf dem Weg nach Übersee, zumeist in die USA. Hilfsorganisationen, religiöse und politische Organisationen bauten rasch eine eigenständige Infrastruktur auf, die beim Ankommen oder bei der Weiterreise half. Viele derjenigen, die 1938 aus Berlin ausgewiesen wurden, waren in der deutschen Hauptstadt geboren worden. Ihre Eltern waren entweder vor oder nach dem Ersten Weltkrieg nach Berlin gezogen. Viele kamen als reguläre innerpreußische MigrantInnen oder aus dem österreichischen Teil Polens, um sich der Großstadt eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen. 

Andere wurden im Ersten Weltkrieg– manchmal unter Zwang – zur Arbeit in das Deutsche Kaiserreich gebracht. Eine weitere große Gruppe floh vor dem polnisch­sowjetischen Krieg und vor antisemitischen Pogromen vor allem in Russland. Berlin war nicht immer ihr Ziel, die meisten sind eher unbeabsichtigt langfristig hier „hängen geblieben“ und in kurzer Zeit Teil der Stadt geworden. 1938 lebten mindestens noch 10 000 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit in Berlin. Sie waren für die Nationalsozialisten der Inbegriff ihres Feindbilds und bereits in den 1920er­Jahren und dann insbesondere nach 1933 gewalttätigen Angriffen ausgesetzt.

Immer wieder begegnet man in Berlin dem Mythos des „Scheunenviertels“. Tatsächlich handelt es sich um einen, wenn nicht den einzigen Ort osteuropäisch­jüdischen Lebens in der Hauptstadt, wenngleich einige Zuspitzungen wie die Bärte und Kaftan tragenden Männer nicht zutreffend sind. In der Grenadierstraße, der heutigen Almstadtstraße, gab es mehr als 20 kleine jüdische Betstuben. Im Viertel fanden sich koschere Lebensmittelgeschäfte und jiddische Inschriften an Ladenfronten. Die nationalsozialistische Propaganda konzentrierte sich besonders auf diese wenigen Straßen. Nach der Machtübergabe fanden hier ab 1933 regelmäßig Razzien statt, die sogar im Radio übertragen wurden. Wenn man sich ansieht, wo diejenigen wohnten, die im Oktober 1938 aus Berlin ausgewiesen wurden, dann fallen die Dragonerstraße, die Linien­ und die Torstraße besonders ins Auge. Allerdings kann man ebenso erkennen, dass die nun Ausgewiesenen sich in der gesamten Stadt, gerade auch in den bürgerlichen Stadtvierteln, nieder gelassen hatten. Vielen war in den Jahrzehnten, in denen ihnen Berlin Heimat geworden war, ein gesellschaftlicher Aufstieg geglückt, ihre Geschäfte liefen gut. Sie führten in Berlin ein normales Leben – was allerdings nach 1933 kaum mehr möglich war.

Alina Bothe, Gertrud Pickhahn

Polen und Deutschland 1938

Die Zweite Polnische Republik war ein noch junger, erst 1918 nach dem Ende des Ersten Weltkriegs gegründeter Staat. Mit den Teilungen Polens am Ende des 18. Jahrhunderts war die polnisch-litauische Adelsrepublik zwischen dem zaristischen Russland, Österreich-Ungarn und Preußen aufgeteilt worden. Erst 1918 konnte die eigenständige Staatlichkeit Polens zurückerlangt werden. Eine zentrale Rolle fiel hierbei dem vormals sozialistischen Politiker und Militärkommandanten der polnischen Freiwilligentruppen in der österreichischen Armee,
Marschall Józef Piłsudski, zu. Zwischen 1926 und seinem Tod 1935 regierte er das Land zunehmend autoritär. Nicht nur geografisch stand die polnische Republik zwei ebenso mächtigen wie gefährlichen Nachbarn gegenüber, der Sowjetunion und dem Deutschen Reich. Die polnische Außenpolitik versuchte hier einen permanenten Balanceakt. In Polen lebte die größte jüdische Gemeinde Europas, im Jahr 1939 mehr als 3,4 Millionen Menschen, etwa ein Zehntel der Gesamtbevölkerung. Jüdisches Leben in Polen war, wie dies bei einer so großen Gruppe zu erwarten ist, sehr vielfältig. Es gab zahlreiche religiöse und politische Verbände und Parteien, Presse, Schulen, Kultur- und Wohlfahrtseinrichtungen. 1938 war international ein Jahr, in dem die radikalen geopolitischen Absichten des Deutschen Reichs und die Intensivierung der Verfolgung der Jüdinnen und Juden in Deutschland offensichtlich wurden. Zu Beginn des Jahres, im März 1938, erfolgte der sogenannte Anschluss, die Annexion Österreichs, die große Teile der österreichischen Bevölkerung begeistert begrüßten. Im Sommer kam die Konferenz in Évian, die sich mit dem durch die nationalsozialistische Verfolgung verursachten jüdischen Flüchtlingsproblem in Europa befasste, zu keinem konkreten Ergebnis. Im Oktober 1938 annektierte das Deutsche Reich unter Zustimmung Frankreichs und Großbritanniens nach dem Münchner Abkommen
die westlichen Grenzbereiche der Tschechoslowakischen Republik, das sogenannte Sudetengebiet. Nur einen knappen Monat danach fand die „Polenaktion“ statt, und nochmals vierzehn Tage später brannten während der Novemberpogrome reichsweit die Synagogen in Deutschland, über hundert Menschen wurden ermordet, Tausende verletzt und mehrere Zehntausend jüdische Männer in Konzentrationslager eingewiesen.

Alina Bothe, Gertrud Pickhahn

Das polnische Märzgesetz und die deutschen Planungen

Als Reaktion auf die deutsche Annexion Österreichs hatte das polnische Parlament Ende März 1938 beschlossen, dass polnischen Staats-angehörigen, die sich ununterbrochen länger als fünf Jahre dauerhaft im Ausland aufhielten, die polnische Staatsangehörigkeit aberkannt werden sollte. Die polnische Regierung befürchtete, dass ihre in Österreich lebenden jüdischen Staatsangehörigen – ungefähr 20 000 Menschen – nach Polen zurückkehren würden, um der drohenden Verfolgung durch die Nationalsozialisten zu entgehen. Das Gesetz richtete sich, ohne dass es explizit im Gesetzestext stand, vor allem gegen die Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die sich im Ausland niedergelassen hatten. Am 6. Oktober 1938 wurde dieses „März­Gesetz“ durch einen Erlass des polnischen Innenministeriums in Kraft gesetzt, Mitte Oktober wurde es dann veröffentlicht.

Es besagte, dass Personen, die seit mehr als fünf Jahren permanent im Ausland lebten, sich binnen vierzehn Tagen, also bis zum 30. Oktober 1938, einen Sichtvermerk in ihren Pass stempeln lassen mussten. Wenn ihnen dies nicht gelingen sollte, würden ihre Pässe die Gültigkeit und die Betroffenen ihre Staatsangehörigkeit verlieren. Die deutschen Behörden reagierten bereits Anfang April 1938 auf das polnische März­Gesetz.
Auf diplomatischem Wege protestierte das Auswärtige Amt. In einer ministeriumsübergreifenden Arbeitsgruppe unter Leitung des Reichs-ministeriums des Innern wurden verschiedene Maßnahmen diskutiert. Hierzu gehörte die Einführung einer neuen Ausländerpolizeiverordnung, die besagte, dass ein Ausländer seine Aufenthaltsgenehmigung im Deutschen Reich automatisch verliert, wenn ihm seine Staatsangehörigkeit entzogen wird. Darüber hinaus wurden Informationen zu Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit im Reich erhoben und Personenlisten erstellt.

Federführend waren aufseiten des Reichsministeriums des Innern der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler, und seine direkten Mitarbeiter Reinhard Heydrich und Werner Best. Im Auswärtigen Amt war Außenminister Joachim von Ribbentrop zwar informiert, die Leitung aber lag bei Staatssekretär Ernst von Weizsäcker. Nachdem das polnische Innenministerium Anfang Oktober 1938 das März­Gesetz in Kraft gesetzt hatte, beschloss die deutsche Seite, dass mindestens 20 000 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit bis zum 30. Oktober des Landes verwiesen werden sollten. An diesem Datum endete die Frist, bis zu der die neuen Sichtvermerke in die Pässe gestempelt werden konnten. Bis zu diesem Zeitpunkt, so die Logik der deutschen Behörden, sollten die Ausweisungsaktion vollz0gen werden. Insbesondere sollten erwachsene Männer ausgewiesen werden, da angenommen wurde, dass ihre Familien freiwillig nachreisen würden.

Alina Bothe, Gertrud Pickhahn

Der Befehl wurde dann mit einem Schnellbrief des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei am 26. Oktober 1938 den nachgeordneten Behörden mitgeteilt und ab dem 27. Oktober umgesetzt. Die Verhaftungen und konkrete Ausweisungen lagen in der Verantwortung der örtlichen Polizeibehörden, die Koordination erfolgte vielfach über die Landesministerien des Innern. Auch die Gestapo, die SS und das Rote Kreuz waren direkt einbezogen. Es handelte sich um die erste Maßnahme dieser Art, die reichsweit durchgeführt wurde. Lokal sind die Anweisungen des Schnellbriefs allerdings sehr unterschiedlich umgesetzt worden. In Berlin begannen die Ausweisungen in den frühen Morgenstunden des 28. Oktober, sie werden von vielen Überlebenden relativ ähnlich geschildert. Sie wurden von Polizisten geweckt, festgenommen, zumeist wurde ihnen gestattet, einen kleinen Koffer mit dem Notwendigsten zu packen und etwa 10 Reichsmark mitzunehmen.

In einigen Fällen führten auch die Gestapo oder SS die Verhaftungen durch. Nach wenigen Stunden in einer Sammelstelle, zumeist Polizeireviere oder für diesen Zweck genutzte öffentliche Gebäude, wurden die Festgenommenen ihrer Erinnerung nach entweder auf den Güterbahnhof am Alexanderplatz oder nach Treptow gebracht. Dort standen als Sonderzüge eingesetzte Personenzüge bereit, die, wie Marcel Reich ­Ranicki sich erinnerte, ungeheizt waren. Schon die ersten Maßnahmen im Rahmen der Gesamtaktion vollzogen die Polizeibeamten in Berlin mit äußerster Härte und unter Anwendung von Gewalt, wie der damalige Leiter der Wirtschaftshilfe der Jüdischen Gemeinde schildert:

„Die Aktion wurde von der Polizei mit grosser Brutalität durchgeführt. Den unglückseligen Opfern wurde kaum Zeit gelassen, ihre Bündel mit den dürftigen Habseligkeiten zusammenzupacken; alle Proteste, Bitten und Beschwörungen blieben vergeblich; in manchen Fällen wurden Familienangehörige, von denen die einen die deutsche, die anderen die polnische Staatsangehörigkeit nachwiesen, von den Polizeibeamten in des Wortes buchstäblichsten Sinne voneinander gerissen. Ich sah, wie eine Frau, die sich an ihre Wohnungstür klammerte, von einem Polizisten mit dem Gummiknüppel auf die Hände geschlagen wurde, bis sie loslassen musste. Alle wurden zur Eile angetrieben. Mütter mit kleinen Kindern auf dem Arm stolperten und fielen über die Treppe hinunter. Gepäckstücke, notdürftig in Minutenfrist zusammengebündelt, fielen auseinander und ergossen ihren Inhalt über die Strasse. Greise und Krüppel wurden roh in die bereitgestellten Polizeiautos hineingestossen – es war ein Bild des Jammers.“3

Alina Bothe, Gertrud Pickhahn

Die „Aktion“ erfolgte bei Tageslicht und wurde von der Öffentlichkeit wahrgenommen. Vermutlich wurde sogar zeitgleich im Radio darüber berichtet. Die meisten Züge aus Berlin gingen nach Neu­Bentschen, einige wenige auch nach Chojnice. In einigen Ausnahmefällen wurden die Ausgewiesenen in regulären Zügen über die Grenze geschickt und konnten direkt bis Poznań oder Warschau durchfahren. Abraham Bachner und sein Sohn James gehörten zu denjenigen, die Warnungen erhalten hatten, und es gelang ihnen, sich der Verhaftung zu entziehen. Später an diesem Tag haben sie sich dann eigenständig über die polnische Grenze geschmuggelt, weil es ihnen zu gefährlich schien, in Berlin zu bleiben.

Die Gewaltanwendung nahm auf den letzten Kilometern vor der Grenze noch zu. Die Ausgewiesenen wurden gezwungen, am letzten deutschen Grenzbahnhof in Neu­Bentschen auszusteigen und von dort etwa sechs Kilometer bei Dunkelheit mit dem Gepäck in Richtung Grenze zu marschieren. Max Karp schrieb drei Wochen später ausführlich an seinen Cousin in den USA: „Es war ungefähr 7 Uhr abends, als wir in Marsch gesetzt wurden, zunächst ging es an der Bahn entlang, dann weiter über Chaussee und Feldwege bei größter Dunkelheit. Die uns begleitenden Polizeimannschaften trugen Gewehre mit aufgepflanzten Bajonetten. Hin und wieder wurden wir von kleinen Scheinwerfern beleuchtet, damit sich auch keiner ‚verkrümeln‘ konnte. Ein bestimmtes Marschtempo musste von uns eingehalten werden, es war schon mehr eine Treibjagd! Wer nicht mithalten konnte, wurde mit schmerzhaften Schlägen und Rippenstößen vorangetrieben.“4

In Berlin blieben Frauen und Kinder zurück, die nun versuchten, die Geschäfte weiterzuführen und zugleich die Emigration zu organisieren. Dass ihnen nur wenige Tage bis zu den Novemberpogromen blieben, konnten sie nicht ahnen. In anderen Städten, wie Hamburg, Hannover, Dortmund oder Nürnberg, wurden gesamte Familien ausgewiesen, in einigen Fällen auch einzelne Kinder aus Heimeinrichtungen.

Alina Bothe, Gertrud Pickhahn

Flüchtlingsleben in Polen

In dem kleinen polnisch­deutschen Grenzort Zbąszyń/Bentschen lebten 1938 knapp 5000 Menschen. Binnen weniger Stunden kamen an diesem Ort mehr als 8000 aus Deutschland Vertriebene an, die in der Herbstkälte dringend versorgt werden mussten. In den ersten Wochen galt es, eine Infrastruktur für die Ausgewiesenen in Zbąszyń aufzubauen, die oftmals auch als Flüchtlinge bezeichnet wurden. Eine alte Mühle, die Schule im Ort, der Tanzsaal eines Restaurants und Militärbaracken wurden in Notunterkünfte umgewandelt, in denen häufig Hunderte Menschen ohne Privatsphäre ausharren mussten. Einige der Ausgewiesenen wurden als Untermieter von BewohnerInnen des Ortes aufgenommen. Die jüdische Presse Polens warb um Spenden, auch nicht­jüdische Polinnen und Polen und das polnische Rote Kreuz halfen. Die Bemühungen verschiedener jüdischer Hilfsorganisationen wurden vom amerikanischen Joint Distribution Committee, einem Zusammenschluss jüdischer Wohlfahrtsorganisationen in den USA, finanziell erheblich unterstützt.

Zwischen Flüchtlingen und Ortsansässigen gab es viele Kontakte, so wurden unter anderem gemeinsame Fußballspiele organisiert. Einige der Ausgewiesenen konnten den Ort bereits nach wenigen Tagen wieder verlassen und weiter in das Landesinnere Polens gelangen. Andere kamen bei Verwandten unter, um viele kümmerten sich die Jüdischen Gemeinden in ganz Polen. In Warschau fanden mehr als 3000 Menschen in Notunterkünften Zuflucht, in Krakau nochmals 1500. Gemeindevorsitzende aus ganz Polen reisten nach Warschau und Zbąszyń und holten dort Menschen persönlich ab, die sie in ihren Gemeinden unterbrachten und versorgten. In den folgenden Monaten gelang es, zunächst Kinder und Jugendliche aus Zbąszyń herauszuholen. Insgesamt gingen sechs Kindertransporte aus Polen direkt nach Großbritannien.

Einige Jugendliche fanden auch in Australien Aufnahme. Insbesondere die zuvor schon in zionistischen Organisationen engagierten Jugendlichen reisten illegal nach Paläs tina aus. Andere Familien zogen gemeinsam von Zbąszyń aus in die Geburtsorte der Elterngeneration, wenn es ihnen nicht gelang, sich Visa und Aufenthaltsgenehmigungen für die Emigration zu sichern oder sie sich nicht voneinander trennen wollten. Die Flüchtlingsgemeinschaft wurde so von Monat zu Monat kleiner. Während des Aufenthalts in Zbąszyń, aber auch in anderen Notunterkünften, wurden Bildung und Ausbildung, vor allem in praktischen Berufen und in der polnischen Sprache organisiert. Die meisten der Ausgewiesenen, insbesondere jene, die im Reich geboren waren, sprachen kaum oder gar kein Polnisch. Mitte August 1939 wurde das Flüchtlingslager in Zbąszyń endgültig aufgelöst.

In vielen Erinnerungsberichten wird die herausragende Hilfsbereitschaft der polnischen Jüdinnen und Juden immer wieder gewürdigt. Die polnischen Juden waren ziemlich großartig“,5 begeisterte sich Julius Buck noch in den 1990er­Jahren. Die internationale Presse berichtete tagelang über die Ausweisungsaktion und die Situation in Polen. Die Gewalt der „Polenaktion“ und das unklare Schicksal der Flüchtlinge prägten die Berichterstattung.

Alina Bothe, Gertrud Pickhahn

Nach der Ausweisungsaktion

wenige Tage nach der Ausweisungsaktion begannen offizielle Verhandlungen zwischen der polnischen und der deutschen Regierung. Polen forderte zunächst, dass alle des Landes Verwiesenen nach Deutschland zurückkehren sollten. Nach den Novemberpogromen wurden die Verhandlungen ausgesetzt. Als man sie Anfang 1939 fortführte, war Polen bereit, die Ausgewiesenen und auch ihre noch im Reich verbliebenen Familienangehörigen aufzunehmen. Im Gegenzug bestand die polnische Seite darauf, dass die Betroffenen ihren Besitz nach Polen transferieren konnten. Die Ausweisungsaktion war mit der ersten „Polenaktion“ Ende Oktober 1938 nicht beendet. Bereits ab Dezember 1938 erhielten weitere Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit in Berlin einen Ausweisungsbefehl. Zumeist wurde ihnen zwei bis vier Wochen Zeit gegeben, das Land zu verlassen. Ab Februar radikalisierten die Deutschen die Ausweisungspolitik, sie galt nun insbesondere Frauen und Kindern bereits ausgewiesener Männer. Die Vorgehensweise war diesmal anders. In einem Teil der Fälle wurden die Menschen direkt verhaftet und ihr Eigentum beschlagnahmt; anschließend wurden sie bis zur polnischen Grenze transportiert. In anderen Fällen mussten sie sich selbst an die Grenze begeben, die sie oftmals mit der Hilfe von Schmugglern überquerten. Reichsweit wurden im Jahr 1939 mindestens 10 000–15 000 Menschen ausgewiesen. Vermutlich erhielten noch deutlich mehr einen entsprechenden Befehl, doch ihnen gelang die Emigration in andere Länder. Aus Berlin mussten, zurückhaltend geschätzt, 1939 mindestens 3000 Menschen zwangsweise das Land verlassen. Die Mehrheit der Ausgewiesenen hatte im Deutschen Reich kleine und mittelständische Unternehmen betrieben. Entweder wurden diese nun durch Bevollmächtigte und beauftragte Treuhänder  aufgelöst, oder den Ausgewiesenen wurde gestattet, für eine kurze Dauer von zwei Wochen zur Klärung dringender Angelegenheiten ins Reich zurückzukehren. Dieses Vorgehen hat zum Prozess der „Arisierung“ jüdischen Besitzes in Deutschland in erheblicher Weise beigetragen. Die Geschäfte und Wohnungseinrichtungen wurden mehrheitlich weit unter Wert verkauft – sie wurden „verschleudert“.

Die erzielten Erlöse konnten nur über ein Sonderkonto der Dresdner Bank nach Polen transferiert werden. Bis zum deutschen Überfall auf Polen hatten nur wenige ihr Geld bereits erhalten. Die Genehmigung zur Rückkehr galt jeweils nur für 1000 Personen gleichzeitig. Viele, die nochmals nach Deutschland reisen konnten, versuchten von dort aus auszuwandern. Nach den Novemberpogromen wurde dies immer schwieriger. Schicksale wie jene von Max Karp und Joachim Singer waren bezeichnend. Beide wurden im Oktober 1938 ausgewiesen und konnten im Frühsommer 1939 nochmals nach Berlin kommen; ihr Ziel war die Emigration. In Berlin ergaben sich jedoch Hindernisse bei der Ausreise, beide mussten ihre zeitlich erheblich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung mehrfach bei der Fremdenpolizei verlängern lassen. Aus anderen Berichten wissen wir, dass die regelmäßigen Meldungen auf den Polizeirevieren von Demütigungen und Gewalt begleitet waren. Als dann das Deutsche Reich am 1. September 1939 Polen überfiel, saßen sie, wie viele andere auch, buchstäblich in der Falle. Sie konnten das Land nicht mehr verlassen und wurden beide Opfer der sogenannten zweiten Polenaktion.

Alina Bothe, Gertrud Pickhahn

Auf Befehl Reinhard Heydrichs begannen im ganzen Reich am 13. September 1939, an Rosh Hashana, dem jüdischen Neujahr, Verhaftungen von Juden polnischer Staatsangehörigkeit und jenen, die bereits staatenlos waren. Mindestens 5000 wurden in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen gebracht. Aus Berlin waren es mehr als 700 Männer, die nach Sachsenhausen verschleppt wurden. Am Bahnhof Oranienburg empfing sie ein wütender Mob: „Steine, Holzstücke, Nägel und Straßenkot wurden nach uns geworfen. Sie trafen uns ins Gesicht, in die Augen. Manche wurden geblendet und fielen, aber wir durften ihnen nicht helfen, durften uns nicht umsehen, nur vorwärts laufen. Vorwärts.“6

Im Lager war die Behandlung so brutal, dass die ersten Opfer binnen weniger Tage starben. Etwa ein Drittel der Berliner Gefangenen aus Sachsenhausen wurde entlassen und konnte emigrieren, die Mehrheit wurde ermordet. Max Karp und Joachim Singer gehörten zu denjenigen, die bereits im Frühjahr 1940 starben. Die Betreuung der polnischen Gefangenen übernahm die Reichsvertretung der Juden. Insbesondere Recha Freier, Mitarbeiterin im Palästina­Amt und Gründerin der Jugend­Aliyah, engagierte sich in herausragender Weise. Sie organisierte mehrere illegale Transporte aus Sachsenhausen freigelassener Männer, die Palästina zum Ziel hatten. Eine dieser Gruppen ging nach einer abenteuerlichen Flucht über Wien und den Balkan an Bord des ausrangierten Donau­Dampfers Pentcho. Die Pentcho erlitt in der Nähe der griechischen Insel Rhodos Schiffbruch. Die Flüchtlinge wurden zunächst auf der griechischen Insel und dann im italienischen Internierungslager Ferramonti festgehalten, bevor sie dort von den Alliierten befreit und 1944 nach Palästina gebracht wurden.

Alina Bothe, Gertrud Pickhahn

Ausweisung, Abschiebung oder Deportation?

in der damaligen Presse und von ZeitzeugInnen wurde die Ausweisungsaktion vom 28. Oktober 1938 als Deportation bezeichnet. Wir haben uns gegen diesen Begriff entschieden, weil er heute von den späteren Deportationen in die Konzentrations­ und Vernichtungslager überlagert wird. Dennoch handelt es sich bei der Massenaktion vom Oktober 1938 nicht um eine „übliche“ Ausweisung oder Abschiebung, sondern um ein monatelang vorbereitetes, koordiniertes Vorgehen diverser Behörden und Täter, das sich gegen Männer, Frauen und sogar gegen Kinder richtete. Unter erheblicher Gewaltanwendung wurden Menschen
aus ihrem Leben, ihren Wohnungen und Arbeitsstätten gerissen, in Busse und Züge gepfercht und an die polnisch­deutsche Grenze gebracht. Zwar hatte es zuvor Gerüchte und Warnungen gegeben, aber offizielle Ausweisungsbefehle erhielten die Betroffenen erst während der „Aktion“.

Insbesondere die letzten Kilometer bis zur Grenze und den erzwungenen Grenzübertritt schildern viele Ausgewiesene als besonders brutale Erfahrung. Mehrere Personen überlebten die Ausweisung selbst nicht oder starben in den ersten Tagen nach Ankunft in Polen an den Strapazen. Plötzlich ohne eigenes Heim, in eilig errichteten Notunterkünften hausend, verübten einige Dutzend Verzweifelte Suizid. Andere starben an Krankheiten, die durch die notgedrungene Enge ausgebrochen waren, oder erlagen Erkrankungen, die unter normalen Bedingungen hätten rechtzeitig behandelt werden können.

Die „Polenaktion“ war keine vergleichsweise harmlose Episode in der Geschichte der Shoah, sondern ein gezielter Ausbruch der Gewalt gegen sogenannte Ostjuden: jene Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit, die den Nationalsozialisten als Erzfeinde galten. Es war keine bürokratisch abgewickelte Ausweisung, sondern der erste gewaltsame Versuch, Tausende Menschen über die Grenze nach Polen zu transportieren. Hier zeigte sich, dass es tatsächlich möglich war, eine größere Anzahl Menschen unter Anwendung teils brutaler Gewalt unter den Augen der Öffentlichkeit festzunehmen und außer Landes zu bringen. Dies war für die Nationalsozialisten eine wichtige Erfahrung, die sie nach der deutschen Besetzung Polens in den späteren Deportationen unerbittlich nutzten. Wenn also in diesem Buch die Begriffe Ausweisung und Abschiebung in Bezug auf die „Polenaktion“ verwendet werden, dann mangels anderer Begrifflichkeiten. Es bestand ein erheblicher Unterschied zu vorangegangenen Ausweisungen, aber auch zu den späteren Deportationen.

Alina Bothe, Gertrud Pickhahn

Dokumentation
Ausgewiesen! – Die “Polenaktion” 1938

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